Frank Schweitzer, Gerald Silverberg (Hrsg.)

Evolution und Selbstorganisation in der Ökonomie /
Evolution and Self-Organization in Economics

(Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur- Sozial- und Geisteswissenschaften, Bd. 9)

Berlin: Duncker & Humblot, 1998, 488 S. (ISBN 3-428-09608-8)



Einführung

Durch die stürmische Entwicklung der Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie hat die Frage nach der Evolution und Selbstorganisation in der Ökonomie in den vergangenen Jahren neue Impulse erhalten. Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, daß die Ökonomie eher durch Nichtgleichgewicht, eingeschränkte Rationalität, Interaktion und Prozessualität charakterisiert ist als durch Gleichgewicht und Stationarität, vollkommene Rationalität, repräsentative Agenten und vollkommene Konkurrenz. Leider ist diese abstrakte Erkenntnis allein nicht ausreichend, um eine eingefahrene Wissenschaft zu reformieren und voranzubringen. Schließlich hat schon Marshall gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den letztlich evolutionären Charakter der Ökonomie hingewiesen, ohne daß dies zu nennenwerten Konsequenzen für die Weiterentwicklung dieses Faches geführt hätte. Offensichtlich war die Zeit dafür noch nicht reif.

Allerdings hat sich die Situation in den letzten zwanzig Jahren grundlegend gewandelt. Dafür lassen sich im wesentlichen drei Gründe anführen. Ein Grund liegt in der Entwicklung der Naturwissenschaften, die - ob zu Recht oder nicht - nach wie vor eine Vorreiterfunktion für das methodologische Selbstverständnis der Sozialwissenschaften einnehmen. Die Naturwissenschaften haben sich in zunehmendem Maße den Fragen der Selbstorganisation und Evolution auf den verschiedensten Gebieten zugewandt. Sie haben nicht nur durch formale Einsichten, die etwa die Beziehung zwischen Zufall und Notwendigkeit, zwischen stochastischen und deterministischen Modellansätzen erhellen, einen Paradigmawechsel vollzogen, sondern sie haben auch ein Instrumentarium bereitgestellt, mit dem sich derartige Probleme behandeln lassen. Dies betrifft beispielsweise die Nichtlinearitäten, denen früher mit herkömmlichen mathematischen Methoden nicht ohne weiteres beizukommen war. Die Erkenntnis, daß die Nichtlinearität der grundlegenden Interaktionen von essentieller Bedeutung ist, um komplexe Muster in Zeit und Raum entstehen zu lassen, hat zu entscheidenden Fortschritten bei der Entwicklung von analytischen Methoden und Simulationstechniken geführt, so daß heute dem Forscher eine Vielfalt von Ansätzen zur Behandlung komplexer Systeme zur Verfügung steht.

Ein zweiter Grund für die gewandelte Situation liegt in den realen Geschehnissen der Zeitgeschichte, die gerade in der Ökonomie zu einer Revidierung von allzu selbstzufriedenen Ansichten geführt haben. Ölkrise, Asienkrise, Beschäftigungskrise - sie alle haben nur zu schmerzlich die scheinbare Unvermeidlichkeit von Konjunkturschwankungen wieder ins Bewußtsein gerückt, nachdem während der 50er und 60er Jahre das Ende der Konjunktur und die ära des stabilen Wachstumspfades heraufbeschwört worden waren. Spekulative Exzesse, Verschuldungskrisen, der Transformationsprozeß der ehemals sozialistischen Länder, wieder aufklaffende Einkommensungleichheiten auf nationaler und internationaler Ebene und die Umweltproblematik haben das Ihre dazu beigetragen, ein auf Paretooptimalität und Dr. Pangloss basierendes Weltbild in Frage zu stellen.

Und drittens zeigt der unbändige technische Fortschritt, daß unsere Welt von ständigen Neuerungen geprägt wird, die schwer oder unmöglich vorherzusehen und zu kontrollieren sind. Während wir uns subjektiv des Eindrucks nicht erwehren können, daß wir in einem Zeitalter von noch nie dagewesenen technischen Umwälzungen leben, weisen aber gleichzeitig die Produktivitätsdaten eine lange nicht mehr bekannte Schwäche auf.

Das Zusammtreffen dieser Faktoren, negativer wie positiver, macht nun endlich den Weg frei für die Rezeption einer ganz neuen und methodologisch stimmigen Vorgehensweise in der ökonomischen Theoriebildung. Ausgehend von den vereinzelten Ausbruchsversuchen dies- und jenseits des Atlantiks in den 70er Jahren, etablieren sich allmählich Methoden, werden in einer Vielzahl von Arbeiten Ergebnisse erzielt, die sich zu einem neuen wissenschaftlichen Bild der Ökonomie zusammenfügen.

Das Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, in einem nicht zu technisch angelegten überblick die Breite dieser neueren Entwicklung darzustellen. Den Schwerpunkt bilden dabei die Forschungen von vorwiegend in Europa arbeitenden Wissenschaftlern, wobei dem deutschen Sprachraum ein besonderes, aber nicht ausschließliches, Gewicht beigemessen wurde.

Der Band gliedert sich in drei Teile, von denen der erste sich mit methodologischen und philosophischen Grundlagen befaßt. Hier werden prinzipielle Fragen nach der Selbstorganisation und Evolution in der Ökonomie und nach ihrer Anwendbarkeit aufgegriffen.

Alan Kirman eröffnet den Band mit einem überblick, der sowohl die neuere ökonomische Literatur als auch die dogmengeschichtliche Hintergründe umfaßt. Die Betonung liegt dabei auf den zwei zentralen Themen Interaktion und Organisation, vor allem im Rahmen von rigoros untersuchten analytischen Modellen. Peter Allen entwickelt dieses Thema weiter in die Richtung von ``complex economic evolution'', basierend auf offenen Prozessen mit möglicherweise unbegrenztem kreativen Potential, die man vorwiegend mit Hilfe von Simulationen untersucht.

Bernd Woeckener grenzt dann das Thema etwas ein, indem er ausführlicher die zentrale Rolle von Koordinationsproblemen und Komplementaritäten behandelt. Dabei zeigt er, daß bei zunächst nicht verwandt erscheinenden Problemen, wie Technikwahl einerseits und Beschäftigungsniveau anderseits, ähnliche Grundstrukturen auftreten können und daß der Stochastik eine Schlüsselrolle bei deren Verständnis zukommt. Schließlich greift Frank Schweitzer Fragen der räumlichen Selbstorganisation am Beispiel der ökonomischen Geographie auf und demonstriert anhand von Computersimulationen die Herausbildung und raum-zeitliche Entwicklung von Standortverteilungen.

Nachdem in diesen breiter angelegten übersichten die Hauptthemen dargelegt worden sind, kommen die folgenden Beiträge auf wichtige Teilaspekte wieder zurück. Hans-Walter Lorenz und Richard Schuler befassen sich mit der Anwendung von deterministischen dynamischen Systemen in der Ökonomie, wobei die beiden Beiträge sich ergänzen, indem sie unterschiedliche Probleme mit durchaus verschiedenen Einschränkungen behandeln. Witold Kwasnicki widmet sich dann dem verwandten Thema der computerunterstützten Simulationsmethodologie und vermittelt dem Leser den aktuellen Stand bis hin zu ``artificial life''-Modellen.

Marco Lehmann-Waffenschmidt und Joachim Schwerin holen uns aus dem Himmel der freien Modellspielereien zurück auf dem Boden der Geschichtsphilosophie, indem sie das Verhältnis von Kontingenz und Struktur untersuchen, vor allem im Hinblick auf die Erklärung von Industrialisierungsprozessen. Der erste Teil des Bandes schließt mit der Abhandlung von Malte Faber und Reiner Manstetten, die die Ökonomie nun wieder in die Natur, wie alle anderen lebendigen Prozesse auch, einbetten wollen und damit einen Bogen zur Selbstorganisation in der Biologie schlagen.

Der zweite Teil des Bandes enthält Beiträge, die jeweils auf eine spezifische ökonomische Problemstellung ausführlicher eingehen. Das Wirtschaftswachstum ist das Thema von Gerald Silverberg und Bart Verspagen, die aufzeigen, wie eine Vielzahl von Komponenten, die im ersten Teil zur Sprache kamen, auch hier Anwendung finden. Mit ihren Ergebnissen werfen sie ähnlichen Fragen auf wie Lehmann-Waffenschmidt und Schwerin in ihrem Beitrag. Auch Uwe Cantner und Horst Hanusch greifen auf dieses Instrumentarium zurück, um Evolution auf der Industrieebene zu behandeln. Insbesondere gehen sie dem Verhältnis von formal-analytischer Theorie einerseits und empirisch-deskriptivem Wissen anderseits nach.

Robin Cowan, William Cowan und Peter Swann wenden sich in ihrem Beitrag einem Gebiet zu, das bisher von der Evolutionstheorie sträflich vernachlässigt worden ist, der Konsumption. Ausgehend von der Beobachtung, daß das Konsumverhalten auch durch das soziale Umfeld geprägt ist (Konformismus, Nachahmung, Differenzierung), entwickeln sie ein Selbstorganisationsmodell mit vielfältigen dynamischen Implikationen. Peter Weise beschäftigt sich in seinem Kapitel ebenfalls mit der klassischen Relation zwischen Produktion und Konsumption und geht der Frage nach, inwieweit die Preis- und Wettbewerbsmechanismen zusammen einen Selbstorganisationsprozeß darstellen. Der zweite Teil schließt mit einem Beitrag von Carsten Hermann-Pillath, der das überaus aktuelle Thema der Transformation der ehemals sozialistischen Länder aus dem Blickwinkel der institutionellen Selbstorganisation behandelt.

Der dritte Teil des Bandes befaßt sich mit dem nunmehr klassischen Ausgangspunkt der evolutorischen Ökonomik, dem Problem von Innovation und technologischem Wandel - allerdings unter Zuhilfenahme einer weiterentwickelten Methodik. Eberhard Bruckner, Werner Ebeling und Andrea Scharnhorst betonen einen Zugang über die Mastergleichung, um Innovations- und Diffusionsprozesse stochastisch zu behandeln. Dieser Ansatz ist in diesem Zusammenhang gegenüber dem ``Polya-urn''--Ansatz von Arthur vergleichsweise wenig verbreitet, ermöglicht aber in vielen Fällen sehr aufschlußreiche Aussagen über Innovationsvorgänge. Jean-Michel Dalle und Dominique Foray wenden den verwandten ``Markov random fields''-Ansatz an, um die Spannung zwischen Innovation und Standardisierung zu erhellen. Georg Erdmann vergleicht die Ergiebigkeit von physikalisch motivierten Gleichgewichts- und Nichtgleichgewichtsperspektiven in bezug auf Innovationsvorgänge in der Ökonomie. Schließlich gehen Günter Hesse und Lambert T. Koch in ihrem Beitrag auf die zumeist ausgeklammerte Problematik der Entstehung von Neuerungen ein, wobei die Frage untersucht wird, inwieweit der evolutionäre Ansatz auch auf der kognitiven Ebene fruchtbar angewandt werden kann.

Unser Band wird durch die Edition und Buchsprechungen ergänzt. In der Edition drucken wir den 1945 erschienenen, aber relativ schwer zugänglichen Aufsatz von Alfred J. Lotka The Law of Evolution as a Maximum Principle nach. In der Aufregung um neue Forschungsergebnisse wird häufig übersehen, daß es schon Jahre vorher Arbeiten gab, die wichtige Grundgedanken nicht etwa nur vage vorweggenommen, sondern sehr präzise umrissen haben. Wie am Beispiel von Lotkas Schrift deutlich wird, enthalten diese Arbeiten oftmals sogar Anregungen, weisen auf Zusammenhänge hin, die unserer Zeit noch um einiges voraus sind. Insofern ist es immer wieder von Nutzen, wenn die Forschergemeinschaft für einen Augenblick von der neuesten Literatur Abstand nimmt und statt dessen Gelegenheit bekommt, bahnbrechende Arbeiten von vor 50 Jahren erneut zu würdigen. Auch Lotkas Verhältnis zu seinem Lehrer Wilhelm Ostwald, der im Jahrbuch Selbstorganisation schon mehrmals Gegenstand einer Edition war, ist von nicht geringem historischen Interesse.

Der Band schließt mit drei ausführlichen Besprechungen von wichtigen Neuerscheinungen zum Thema ``Evolution und Selbstorganisation in der Ökonomie''. Dadurch wird nochmals unterstrichen, daß die kritische Schwelle zu einer eigenständigen Forschung in dieser Richtung auch in der Ökonomie bereits überschritten worden ist.

Frank Schweitzer (Berlin) und Gerald Silverberg (Maastricht)

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Last Update: 29 August 1998